Rudolf Krämer-Badoni: Anarchismus, Geschichte und Gegenwart einer Utopie Anarchisierende Jugend – Was geht?

Sachliteratur

Vor gut 50 Jahren legte der Schriftsteller Rudolf Krämer-Badoni eine merkwürdige Darstellung des Anarchismus vor.

Rudolf Krämer-Badoni: Anarchismus, Geschichte und Gegenwart einer Utopie.
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Rudolf Krämer-Badoni: Anarchismus, Geschichte und Gegenwart einer Utopie. Foto: Roscoe Myrick (CC BY 2.0 cropped)

26. Januar 2021
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In der Zeit der Achtundsechsziger-Bewegung schienen also auch konservative „Aufklärer“ nicht umhin zu kommen, sich mit der Manifestation der Neuen Linken zu beschäftigen, welche sich zumindest zu weiten Teilen in ihrem diffusen Antiautoritarismus von der biederen Sozialdemokratie, als auch vom leninistischen Bolschewismus abgrenzte und konsequenterweise mit dem Anarchismus liebäugelte.

Wohlgemerkt, dies war vor den Verfallserscheinungen der 68er-Bewegung, die in so divergierende Richtungen wie den (nicht-anarchistischen!) RAF-Terrorismus, maoistische und leninistische K-Gruppen, wie auch die Sponti-Bewegung und das Engagement in den Neuen sozialen Bewegungen für Frieden, Ökologie, Feminismus, Homosexuellenrechte, Demokratisierung und gegen Atomenergie, mündeten. Dass eine Bewegung wie jene von 1968 eine echte, protagonistische Kraft ist und auch ohne jede parlamentarische Beteiligung und institutionelle Einhegung Wirkungsmacht entfalten kann, zeigt sich ja auch beispielsweise daran, dass sich bürgerliche Schriftsteller gezwungen sehen, sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen.

Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass revolutionäre Situationen immer mit Polarisierungen einhergehen. Ein Indiktator dafür ist der Einzug der neofaschistischen NPD in die Landtage von Hessen 1966 (7,9%), Bayern (7,4%), 1967 von Rheinland-Pfalz (6,9%) und von Niedersachsen (7%), sowie 1968 von Baden-Württemberg (9,8%).

Achtundsechzig und was folgt? Chaos, Terror, Anarchie?

Krämer-Badoni, der sich – nicht ohne gewissen beissenden Witz – gegen den sozialistischen Sumpf in seinem ganzen Facettenreichtum richtet, ist es insbesondere ein Anliegen, den wiedererstarkten Anarchismus auf's Korn zu nehmen. Vermutlich sieht er die eingehegte Sozialdemokratie als Kontrahenten, aber legitime (also „demokratischen“) Gegenspieler an, während der sowjetische Bolschewismus ohnehin diskreditiert und nicht der Rede wert ist.

Die „jungen Leute“, welche scheinbar plötzlich sozialistische Parolen rufen, sich mit revolutionären Bewegungen weltweit beschäftigen, keinen Respekt vor den Älteren haben, in Kommunen leben wollen, die bürgerliche Doppelmoral anprangern, erklären, den kapitalistischen Staat abzulehnen und endlose Stunden im Plenum diskutieren, sind offensichtlich nicht eingehegt und diskreditiert.

Krämer-Badoni suchte nach einer Einschätzung dieser tatsächlich unvorhergesehenen Erschütterungen. Mit etwas Abstand betrachtet gingen jene aus tieferliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen hervor, welche die Welt des hegemonialen Diskurses üblicherweise ausblendet oder nur äusserst verzerrt wahrzunehmen gewohnt ist. Weil der Schriftsteller keine zufriedenstellende Einschätzung fand, beschloss er, selbst ein Buch über diese Thematik zu schreiben. Es sollte ein Buch werden, was trotz seiner klaren politischen Tendenz insgesamt sachlich bleibt.

Seine Kernthese lautet: Was sich heute (in der Achtundsechziger-Bewegung) abspielt, ist keineswegs etwas völlig Neues. Ganz im Gegenteil hätten wir es hierbei im Wesentlichen mit einer Wiederholung des Trauerspiels zu tun, welches sich schon seit Anbeginn der - in seiner Denkweise - weltfremden sozialistischen Bewegung abspielte und immer wieder abspielt - jener „Weltverbesserer“ und „Gesellschaftskonstrukteure“, welche die Wirklichkeit verkennen, die sich nach ihren humanistischen Idealen richten solle – was, trotz allem „antiautoritären“ Gehabe unweigerlich in Totalitarismus oder Terrorismus münden müsse.

Okay, dachte ich mir: Noch ein gehässiger alter weisser Mann, der von seinem Ledersessel aus jegliche Ansätze für gesellschaftliche Alternative zunichte macht, die Naivität der Jugend belächelt, vor roten Gefahren warnt und ansonsten über Frauen und Migranten herzieht. Ja, diese blöden Säcke sind leider sehr einflussreich. Einige mustergültige Exemplare von diesen konservativ-revoltierenden honoratorischen Deppen sind bei der „Achse des Guten“ aufgeführt. Also, so dachte ich mir, was soll bei Krämer-Badoni schon zu holen sein? Am Ende käme ich wohl wieder nur auf die lahme Gleichung „Anarchismus = Chaos + Gewalt“ - und das Ganze dann mit irgendwelchen fadenscheinigen Belegen gespickt, die wie Quellen wirken sollen, aber lediglich dem Kontext entrissene dumme „Meinungen“ darstellen. Nun ja, tatsächlich erwies sich Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie, dann doch als ernst zu nehmender, als ich zuvor unterstellte...

Tendenziöser könnte ein Einstieg kaum sein

Wobei der Autor sich gleich zu Beginn selbst sabotiert, indem skandalisierend mit den 1969 tagesaktuellen Morden der rassistischen und esoterischen, sogenannten „Manson Family“ einsteigt und die Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus nennt. Hinsichtlich der Bombenanschläge von Mailand und Rom denkt er ganz nach Absicht der verantwortlichen faschistischen Gruppe „Ordine Nuovo“, welche sie verübte: Selbstverständlich nimmt Krämer-Badoni an, dass die verhafteten Anarchist*innen die Täter waren, von denen Giuseppe „Pino“ Pinelli aus dem Fenster der Mailänder Polizeiwache zu Tode gestürzt wurde. Und er echauffiert sich noch über die Verachtung der Justiz durch Rainer Landhand und Fritz Teufel, Demonstrationen in Paris, lateinamerikanische Guerilla-Bewegungen, Herbert Marcuse und so weiter. Der Aufhänger ist also klar. Der altkluge Beobachter des Zeitgeschehens fragt sich: „Anarchisierende Jugend – Was geht?“

Um dieser Frage nachzugehen, beginnt er folgerichtig für einen polemischen Spiessbürger, mit einem Kapitel über anarchistischen Terror, wozu er das missglückte Attentat bei der Einweihung des Niederwalddenkmals 1883 als Ausgangspunkt nimmt. Meine Sicht auf die Dinge: Wären der deutsche Kaiser, Sachsens und Bayerns Könige, der Grossherzog von Baden und andere von der Dynamitexplosion zerrissen worden – vielleicht wäre die Demokratie in Deutschland früher eingeführt worden. Vielleicht wären später der erste und darauf folgend der zweite Weltkrieg verhindert worden. Doch das können wir nicht wissen.

Was Krämer-Badoni herausstellen will, ist, dass der massgeblich beteiligte Anarchist August Reinsdorf, kein einzelner Verwirrter, sondern voll Hass auf den Staat und mit der Utopie einer egalitären Gesellschaft erfüllt war, wie er im Bekenntnis vor seiner Hinrichtung deutlich machte. Statt dies abzutun, gälte es diese Szene gewissermassen ernstzunehmen. Zumindest die Polizei tat dies, mit der gängigen Infiltration der revolutionären Szene landauf landab. Neben einzelnen Gewalttaten an sich, regt sich der Autor insbesondere durch ihre bitterböse Rechtfertigung, etwa durch Johann Most, auf. Woher der Hass auf die Obrigkeit kommen könnte, darüber hingegen verliert er kein Wort.

Erstaunliche Sachkenntnis ansprechend aufbereitet

Nach einer grösstenteils richtigen Darstellung anarchistischer Grundgedanken, widmet sich der Autor mit einer überraschenden Sympathie dem Leben und Denken Pierre-Joseph Proudhons und auch dessen Verachtung durch Karl Marx. Hier zeigt sich klar, dass Krämer-Badoni seinen Quellen gelesen hat – weswegen sein Buch eben nicht als blödsinnige Bürgerschundliteratur abgetan werden kann. Irritierend ist darauf aufbauend jedoch der Sprung im dritten Kapitel zur chinesischen Kulturrevolution, also der Adaption des jugendlichen Bedürfnisses nach Revolte bei den Roten Garden für den „kommunistischen“ Staat Maos. Rebellisches Bedürfnis, verknüpft mit Eigeninitiative und Forderungen nach Selbstverwaltung einerseits, schliessen sich nicht mit zentralisierter Staatlichkeit und Obrigkeitshörigkeit andererseits aus, scheint der Autor aussagen zu wollen. Der Antiautoritarismus stünde daher nicht im Gegensatz zum Autoritarismus, sondern es handle sich hierbei quasi um zwei Seiten derselben Medaille.

Leider muss ich gestehen, dass dies eine These ist, welche ich viel früher und unabhängig von der Lektüre des Buches selbst vertreten habe. Zunächst aus dem Wissen um die Entwicklungen der Achtundsechziger-Bewegung, wo mir selbst unklar war, wie aus undogmatischen lustvollen Rebell*innen, in so kurzer Zeit Kaderkinder kommunistischer Sekten werden konnten. Dann aber auch aus eigener Erfahrung: Jene, die am lautesten und pöbelhaftesten nach der Abschaffung aller Autoritäten schreien, würden sich oftmals selbst gern an der Führung sehen. Trotz dieser Wahrnehmung meinerseits, kritisiere ich, dass Krämer-Badoni bei dieser Feststellung zu bleiben scheint und ebenfalls vorhandene egalitäre, horizontale Organisationsformen gar nicht in den Blick nimmt.

So sieht dann auch seine Darstellung von Michael Bakunin als „eigentlicher“ Anarchist aus. Die Verachtung des Autors für den Revolutionär ist unverhohlen und zielt in illegitimer Weise vor allem auch auf ihn als Person ab. Dennoch kann man nicht verleugnen, dass sich Krämer-Badoni mit seinem Gegenstand auseinandergesetzt hat und nicht einfach Märchen schreibt. Beispielsweise zeigt er auf, dass die marxistische Kritik des blinden „Voluntarismus“ bakunistischen Vorstellungen keineswegs gerecht wird. Sicherlich kann eine Kritik an Bakunins Person oder seinem Agieren geübt werden. Was nach der Lektüre bleibt, ist jedoch vor allem der Eindruck, es mit einem Psychopathen zu tun zu haben. Bei Bakunin.

Wiederum steht die Auseinandersetzung mit Marx und Engels und das Spannungsverhältnis zwischen Autoritären und Antiautoritären innerhalb der Ersten Internationalen und sonstigen internationalen Begegnungen im Fokus, um die vorher erwähnte These zu untermauern. Begrüssenswert ist, dass der Autor auch Bakunin selbst ausführlich zitiert, was ermöglicht, ein eigenes Urteil über den Argumentationsgang zu fällen. Zugleich haben wir es mit einem Grundproblem konservativer Denker zu tun, einzelne Figuren in das Licht zu rücken und so gut wie kein Verständnis für gesellschaftliche Entwicklungen und darauf reagierende soziale Bewegungen zu haben. (So erklärt sich beispielsweise auch Krämer-Badonis völlig abwegige Aussage im Einstiegskapitel, Cohn-Bendit hätte im Alleingang die Pariser Studentenproteste 1968 ausgelöst.)

Was innovativ sein soll, mutet eher komisch an, wenn im folgenden Kapitel der sozialistische Antagonismus „heute“ zwischen Wolfgang Harich und Daniel Cohn-Bendit ausgefochten werden soll. Die Denkbewegung wird nach vorherigem klar, hat sich jedoch an dieser Stelle schon verbraucht.

Gewagte Rückschlüsse und Sprünge bringen das zu untersuchende Durcheinander hervor

Krämer-Badoni springt anschliessend wieder zurück und betrachtet die „Linke unter sich – hundert Jahre vorher“. Dies ist dahingehend nicht unplausibel, als das die Gründung der Ersten Internationalen in London 1864 durchaus als Wegmarke genommen werden kann, um ursprüngliche Konfliktlinien aufzuspüren, die sich historisch weiter fortpflanzten. Im Wesentlichen geht es hierbei um die Auseinandersetzungen und Intrigen in diesem Zusammenschluss, die bekanntlich 1872 zum Ausschluss der Antiautoritären aus der IAA und deren eigenständiger Formierung als anarchistische Bewegung führten.

Die Erzählung wird wiederum anhand von Schriftstücken und führenden Köpfen aufgerollt, welche freilich nicht irrelevant waren. Gleichwohl lässt sich damit kein Blick für grundlegende und wichtige theoretische Streitfragen gewinnen und erweitern, seien es die Kontroversen um Zentralismus/Föderalismus, Bejahung oder Ablehnung von Staat und bürgerlichem Parlamentarismus, politische Parteien oder autonome Selbstorganisation, Klassenstruktur und revolutionäre Subjekte usw..

Mit diesen Leerstellen springt Krämer-Badoni wieder in die Gegenwart der „Jugendrevolte“ und diskutiert Konzepte der Selbstverwaltung und hierarchiefreien Organisation und die Ablehnung des Establishments, um die Kontinuität zum historischen Anarchismus aufzuzeigen. Dies beinhaltet unter anderem auch eine weitgehende Kritik und Ablehnung des Bolschewismus, dafür jedoch eine Hinwendung zu antiimperialistischen Befreiungsbewegungen (mit ihren höchst problematischen Implikationen, wie dem linken Antisemitismus).

Weiterhin schreibt Krämer-Badoni über den - aus seiner Sicht - langweiligen Anarcho-Syndikalismus, stellte jener sich doch als eine sachliche, klassenbasierte und unaufgeregte Gewerkschaftsbewegung heraus. (Hier zeigt sich wieder einmal, dass die bürgerlichen Denker*innen nicht von ihrem Gewaltfetisch lassen können. Entweder der Anarchismus ist gewalttätig – und damit abzulehnen. Oder er ist nicht gewalttätig – könne dann ja aber wohl kein richtiger Anarchismus sein.)

Dies dient ihm vor allem dazu die Frage aufzuwerfen, wie es die Anarchist*innen bei ihrem Organisationschaos und ihrer Gewaltaffinität zuvor denn überhaupt geschafft hatten, eine relevante soziale Bewegung auf die Beine zu stellen. Die Antwort leitet der Autor aus der Darstellung des Scheiterns insurrektionalistischer Erhebungen, wie auch aus der Überwindung der Fixierung auf blosse Propaganda ab.. Peter Kropotkin lieferte dann Krämer-Badonis Darstellung nach zumindest etwas Theorie, um die „ausserparlamentarische Opposition“ zu beschreiben, damit diese ihr eigenes Handeln begreifen könne.

Die Distanz der Aktiven in der Achtundsechziger-Bewegung, welche die bürgerlichen Kreise und Intellektuellen so überrasche, sei somit überhaupt nichts Neues. In ihr manifestiere sich jedoch der ungeklärte Widerspruch, entweder tatsächlich politische Opposition sein zu wollen, oder „antiparlamentarisch“ Selbstorganisation zu betreiben. Auch darin muss ich dem Autor recht geben und meine, es ist wichtig, dieses Spannungsverhältnis herauszuarbeiten – allerdings mit einer gegenteiligten Zielsetzung als das politisch etablierte Bürgertum, welches auf die Einhegung autonomer Bewegungen abzielt. Offenkundig zeigt Krämer-Badoni wiederum gewisse Sympathien für Kropotkin - was jedoch mehr überrascht -, auch für Most, die er jedoch wiederum für ihre Gewaltaffinität rügt. Auweia.

Abschliessend stellt er den Sieg des leninistischen Kommunismus über den Anarchismus in der russischen Revolution und im spanischen Bürgerkrieg dar. Dabei scheine nicht ausgemacht zu sein, dass sich der Anarchismus damit als relevantes Phänomen endgültig erledigt habe. In Kommunen würden anarchistische Vorstellungen praktiziert und erneuert werden. Absurderweise wettert der Schriftsteller auf den letzten Seiten dann darüber, dass der Sowjet-Kommunismus alle zu Staatsbeamten mache und im Grunde genommen die repressivste und monopolisierteste Form des Kapitalismus wäre. Und er wirft noch einige unbegründete Behauptungen in den Raum, wie etwa, dass sich Malatesta heute unter den Maoist*innen finden würde.

Trotz seiner ausführlichen Recherche in anarchistischen Quellen und einer skeptischen Beschäftigung mit dem Zeitgeschehen, endet er also mit einer unzulänglichen Vermischung verschiedener Stränge und vulgären Darstellung des Anarchismus. Das wirkt eigenartig, verweist aber letztendlich sinnbildlich darauf, dass Krämer-Badoni nicht in der Lage ist, über den begrenzten Horizont seines bürgerlichen Bewusstseins hinaus zu schauen – weil er es schlichtweg nicht will, weil er die Infragestellung seiner eigenen Klassenposition, sonstigen Privilegien, aber eben auch seiner politischen Position nicht zulassen will.

Der Mehrwert der spiessigen Wutbürger-Perspektive

Meine vorurteilsbehaftete Herangehensweise, musste ich also bei der Lektüre von Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie über Bord werfen und überdenken, da ich es mit einem Autoren zu tun hatte, der seinen Gegenstand studiert hat und zum eigenständigen Urteilen in der Lage ist. Und ja, es mag stimmen, dass er damit weit eigenständiger denkt, als mancher Professor oder manche Lehrerin, die, mitgerissen vom Tagesgeschehen, plötzlich „marxistisch“ denken oder sich für „revolutionär“ halten, weil sie mal ein bestimmtes Buch gelesen oder an einer Versammlung teilgenommen hatten, in diesen berauschenden Zeiten.

Krämer-Badonis Herangehensweise, in die Geschichte des Anarchismus zu blicken, um aufzuzeigen, dass bestimmte Diskussionen um das Verhältnis zur bestehenden Gesellschaft, revolutionäre Subjekte, den Umgang mit dem Staat etc. schon hundert Jahre früher geführt wurden, finde ich einen ernüchternden Beitrag für all jene, die sich vom Zeitgeschehen blenden lassen. Selbstverständlich ist meine Intention dabei eine andere, nämlich die Überlegung, unter welchen Umständen, anarchistische Positionen verbreitet und mit anarchistischer Herangehensweise Organisation betrieben und effektive Aktionen hervorgebracht werden können.

Schliesslich teile ich auch die erwähnte These, dass der Antiautoritarismus mehr oder weniger als die Kehrseite des Autoritarismus gelten kann. Dies kann innerhalb eines Subjektes oder einer Gruppe der Fall sein. Es kann sich jedoch auch in einer breiteren sozialistischen Bewegung widerspiegeln.

Als „autoritär“ begreife ich dabei nicht die Sozialdemokratie - welche in diesem Zusammenhang ja kaum eine Rolle spielt, wenn die Situation zugespitzt ist und sich die Lager deutlicher abzeichnen – sondern die K-Gruppen und (Führungs-)Stile innerhalb sozialer Bewegungen. Gerade darum gilt es den Anarchismus über den Antiautoritarismus hinaus zu entwickeln, das heisst, antiautoritäre Reflexe zu reflektieren und eigenständige Inhalte, Wertvorstellungen und Organisationsprinzipien zu entwickeln und zu praktizieren.

Diese ergeben sich natürlich aus den Praktiken von emanzipatorischen sozialen Bewegungen selbst, brauchen jedoch Grundlagen, welche über die tagesaktuellen Erfordernisse einer Bewegung hinausgehen. Auch wenn ich persönlich schon zahlreiche negative Beispiele gesehen habe, halte ich entgegen Krämer-Badoni, anarchistische Organisation für möglich und auch für die Voraussetzung dafür, nicht ins Autoritäre umzukippen oder sich in blosse Lebensstile aufzulösen. Eine eigenständige sozial-revolutionäre Orientierung kann dabei jedoch nur gewonnen werden, wenn auch eine Scheidung des Anarchismus vom diffusen „antiautoritären“ Linksliberalismus als auch von selbstbezüglichen „linken“ Akademiker*innen vorgenommen wird. Strategische und respektvolle Kooperationen schliesst dies ja nicht aus.

Darüber hinaus ist Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie auch als Zeitdokument ein Beitrag, den man sich anschauen kann, um die Achtundsechziger-Bewegung zu verstehen. Im Unterschied zu manch manipulativen Krypto-Leninisten, deren einziges Anliegen ist, den Anarchismus argumentativ zu untergraben, weiss man beim konservativen Wutbürger Krämer-Badoni wenigstens gleich, woran man ist. Ironischerweise wird sein Beitrag daher für Apologeten des Anarchismus wie mich brauchbar.

Jonathan Eibisch

Rudolf Krämer-Badoni: Anarchismus, Geschichte und Gegenwart einer Utopie. Molden 1970. 288 Seiten, ca. SFr 14.00